Der Atem ist unser Freund. Immer da, immer verfügbar.
Er erzählt uns, wie es uns wirklich geht – auch dann, wenn der Kopf es noch nicht weiß.
Und er schenkt uns einen direkten Zugang zum Nervensystem: neben den Augen ist er der einzige Prozess, den wir willentlich steuern und der gleichzeitig unbewusst abläuft. Genau hier liegt seine Kraft: Kontrolle in der Nicht-Kontrolle.
Warum Breathwork wirkt – wissenschaftlich und alltagsnah
Unser Nervensystem entscheidet blitzschnell, ob wir in Sicherheit sind oder in Gefahr. Stephen Porges nennt das „Neurozeption“ – ein Scan, der dauernd im Hintergrund läuft. Wird Gefahr registriert, springt der Körper in alte Muster: Fight, Flight oder Freeze.
Die Atmung ist dabei das Scharnier.
- Kurze, schnelle Atemzüge → Signal: Alarm.
- Ruhiges, verlängertes Ausatmen → Signal: Sicherheit.
Studien zeigen, dass eine verlangsamte Ausatmung den Vagusnerv aktiviert – jenen Hauptnerv des parasympathischen Systems, der für Ruhe und Regeneration zuständig ist.¹ Schon wenige bewusste Atemzüge können Herzfrequenz und Stresshormone messbar senken.
Drei Situationen – drei kleine Protokolle
1) Vor einem schwierigen Gespräch
Physiologisches Seufzen (Andrew Huberman²): zweimal kurz durch die Nase ein, lang durch den Mund aus. Dreimal wiederholen.
Effekt: Löst Anspannung im Brustkorb, beruhigt Herzschlag.
2) Abends im Grübel-Modus
Box Breathing 4-4-4-4: 4 Sekunden ein, 4 halten, 4 aus, 4 halten. Drei bis fünf Minuten.
Effekt: Gleichmäßigkeit, innere Rhythmen beruhigen sich.
3) Energie-Dip in der Mittagspause
Zwei Minuten tiefer einatmen als gewöhnlich, normal aus. Danach drei ruhige Atemzüge mit extra langem Ausatmen.
Effekt: Energie hochfahren, ohne gehetzt zu werden.
Der Atem als Spiegel
Bevor du etwas „tust“, hör zu:
- Wo sitzt dein Atem – hoch im Brustkorb oder tief im Bauch?
- Ist er schnell oder langsam? Geräuschvoll oder leise?
- Was passiert, wenn du nur drei Atemzüge doppelt so lange ausatmest?
Dieses Mikro-Check-in dauert 20 Sekunden. Es ist wie ein freundlicher Blick in den Spiegel: nicht, um dich zu kontrollieren, sondern um dich zu erinnern.
Stolpersteine
- Zu viel, zu schnell: Intensives Breathwork kann hochpushen statt beruhigen. Starte klein.
- Nur Technik, keine Haltung: Atem ist Beziehung. Sei neugierig, nicht leistungsgetrieben.
- Atem anhalten: Für kurze Sequenzen ok – aber nicht, wenn es Druck oder Enge verstärkt.
Mini-Routine (2 Minuten, überall machbar)
- Aufrecht sitzen, Füße spüren.
- Drei Atemzüge: durch die Nase ein, doppelt so lange aus.
- Fünf Zyklen „6 ein / 6 aus“.
- Ein Satz innerlich: „Ich bin hier.“
Dein Nervensystem registriert Sicherheit. Präsenz kehrt zurück.
Hamburg & Atemräume
Ob in einem Coachingraum oder im Homeoffice: Atemarbeit braucht keine Matte, kein Equipment, keine Stunden. Sie funktioniert mitten im Alltag – am Schreibtisch, in der U-Bahn, vor einem Meeting. Genau das macht sie so kraftvoll: Der Atem reist immer mit.
Fazit: Kontrolle in der Nicht-Kontrolle
Der Atem ist wie ein guter Freund: unscheinbar, treu, immer da.
Wenn alles zu viel wird, erinnert er dich: Du hast Einfluss. Nicht, indem du alles kontrollierst – sondern indem du dir Raum gibst.
Atme – und dein Nervensystem hört zu.
Weiterlesen
- Das Nervensystem als Führungskompetenz (/nervensystem-als-fuehrungskompetenz)
- Emotionale Erste Hilfe: Was du tun kannst, wenn alles zu viel wird (/emotionale-erste-hilfe)
Quellen
- Lehrer, P. M. et al. (2020): Slow breathing and vagal activity. In: Frontiers in Human Neuroscience.
- Huberman, A. (2021): The Science of Breathing. Stanford Neuroscience Podcast.
- Porges, S. (2011): The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation.




